Es ist Montag, der 03. Juni 2024. Meine Mission beginnt. Am Vortag war ich ins französische Bordeaux gereist. Heute Früh werde ich von Dr. Katrin Stang abgeholt. Sie ist die Parabelflug-Programmleiterin beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR. Gemeinsam fahren wir zum Flughafen Bordeaux-Mérignac. Auf dessen Nordseite befindet sich das Gelände von Novespace, einer Tochtergesellschaft der französischen Raumfahrtorganisation „Centre national d’études spatiales“ (CNES). Seit 1986 setzt sie sich mit Parabelflügen für die Forschung in der Schwerelosigkeit ein, um Europa und europäischen Raumfahrtorganisationen mehr Unabhängigkeit zu bieten. Denn neben Novespace gab und gibt es wissenschaftliche Parabelflüge nur in den USA und Russland.
Am Empfang bekomme ich erstmal meinen Ausweis, der mir Zutritt zu allen Bereichen während der nächsten Tage verschafft. Dann zeigt mir Katrin die Räumlichkeiten und das Gebäude. Ich darf auch ihr Büro für meine Arbeit mitbenutzen.
- In abgetrennten Bereichen können die verschiedenen Wissenschaftlerteams ihre Experimente zusammenbauen und für den Flug vorbereiten. Bei Novespace gibt es sogar ein eigenes Labor für die Gäste.
- Fotos vom alten A300, der vor dem A310 für die Parabelflüge genutzt wurde – heute steht er als Ausstellungsstück am Flughafen Köln-Bonn.
Bereits letzte Woche sind alle Wissenschaftler mit ihren Experimenten für diese 42. Parabelflugkampagne des DLR angereist. Eine Woche lang hatten sie Zeit, ihre Experimente in den Airbus A310-300 von Novespace einzubauen. Heute haben sie die letzte Gelegenheit, vor dem morgigen ersten Flug alles zu testen. Ich darf ihnen dabei über die Schulter schauen. Auf der Südseite des Gebäudes steht er: der majestätische A310. Der vordere Eingang ist für die Flugcrew reserviert, der hintere für die Wissenschaftler und Begleitpersonen. Die Maschine ist keine Unbekannte. Sie war die deutsche Kanzlermaschine mit der Kennung 10+21. 1989 gebaut, diente sie die ersten zwei Jahre bei der DDR-Fluggesellschaft Interflug. Dann übernahm sie die Bundesrepublik Deutschland und baute sie zum VIP-Regierungsflugzeug um. Bis 2014 reisten damit die Bundeskanzler Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel und andere Regierungsvertreter durch die Welt. Als die Maschine ausgemustert wurde, übernahm sie Novespace als Ersatz für den in die Jahre gekommenen A300, der bis dahin die Parabelflüge durchführte.
- Novespace vermarktet den Airbus für die privaten Spaßflüge unter dem Markennamen „Air Zero G“.
Im Jahr 2011 war ich sogar schon einmal genau in dieser Maschine, als sie während eines Regierungsfluges am Flughafen München landete. Ich durfte mir die Kabine mit allen Räumen damals anschauen. Da ist es nun besonders interessant zu sehen, wie sie jetzt nach dem Umbau aussieht.
- An der hinteren Tür liest man ein Zitat von Albert Einstein.
Im hinteren Teil ist noch alles Original. Dort wurde nichts verändert. Lediglich die Toiletten wurden ausgebaut. Denn in der Schwerelosigkeit würden sich deren Flüssigkeiten selbstständig machen. Die Sitze haben noch immer ihre damaligen Bezüge und auch die deutschen Beschriftungen wurden nicht entfernt. 40 davon befinden sich im Heck der Maschine.
- Die Galley wird zum Verstauen von Ausrüstung und Gegenständen genutzt.
- Die Toiletten sind ausgebaut – Flüssigkeiten in der Kabine während der Schwerelosigkeit machen sich nicht gut…
- Altes Entertainment-Programm – Zeuge einer vergangenen Zeit…
Im mittleren und vorderen Bereich der Kabine befindet sich der 20m lange Bereich für die Wissenschaftler. Hier ist alles mit weißer Matte verkleidet, um nichts zu beschädigen und auch um den ein oder anderen ungewollten Fall abzufedern. Direkt an die Sitze im hinteren Bereich schließt der Freiflugkäfig an. Nur in diesem darf man frei und unkontrolliert schweben und die Schwerelosigkeit genießen. Denn zu groß wäre die Gefahr, dass durch unkontrolliertes Schweben durch die Kabine eines der Experimente beeinträchtigt oder gar beschädigt werden könnte. In einer Liste am Eingang des Käfigs kann man sich eintragen, bei welcher Parabel man gerade Zeit hat und den Käfig nutzen möchte. Ich habe das Privileg und darf als Journalist die ersten Parabeln in diesem erfahren. Denn meine Mission ist nicht nur die journalistische Begleitung eines der Experimente und des Fluges an sich, sondern auch um selbst herauszufinden, wie ich mich in der Schwerelosigkeit zurechtfinde und was mein Gehirn macht.
- Der Freiflugkäfig ist nicht groß, aber er erlaubt dennoch ein ungehindertes Erforschen und Erleben der Schwerelosigkeit.
- An der Wand im Käfig ist das „Identification Plate“ (Typenschild) vom A310 befestigt. Dieses schwebte mit ESA-Astronaut Thomas Pesquet bereits auf der Internationalen Raumstation ISS.
- Hier noch ein weiteres Foto vom A310-Typenschild auf der ISS in den Räumlichkeiten von Novespace.
Insgesamt fliegen bei jeder DLR-Kampagne zehn bis elf Experimente mit. Diese verteilen sich auf den Abschnitt der Kabine mit Matten. Ganz vorne im Airbus habe ich nur am Boden Zutritt. Das Cockpit ist während der Parabelflüge nur für die Piloten zugänglich. Nicolas Courtioux von der Novespace-Crew gibt mir eine Führung im Cockpit. Dort wurde beim Umbau zum Parabelflugzeug kaum etwas verändert. Lediglich ein neben dem Fahrwerkshebel installierter ausklappbarer Monitor fällt auf. Auf diesem können die Piloten die Genauigkeit der geflogenen Parabel ablesen und falls nötig nachkorrigieren. So erreichen die Parabeln eine Genauigkeit von 0 bis maximal 0,02G. Vier Piloten braucht man für einen Parabelflug.
- Der zusätzlich installierte Bildschirm zur Überwachung der Parabeln.
Drei fliegen den Airbus, einer macht Pause und löst später nach ein paar Parabeln ab. Dabei steuert ein Pilot nur den Anstellwinkel. Um beim Drücken und Ziehen mit dem eigentlichen Steuerhorn nicht das Rollen um die Längsachse zu beeinträchtigen, wird für ihn ein zusätzliches Steuerhorn aus Metall vor das eigentliche gesteckt. Da es nur mit der Säule unterhalb des Horns verbunden ist, erlaubt es keine Bewegung nach links oder rechts.
Der andere Pilot, der nur für die Querneigung, also das Rollen um die Längsachse, zuständig ist, bewegt das Steuerhorn lediglich mit Ziehen an zwei Bändern, welche links und rechts an diesem befestigt sind. So besteht keine Gefahr, dass er dieses aus Versehen drückt oder zieht. Der dritte Pilot ist einzig und allein für die Schubhebel und somit die Geschwindigkeit verantwortlich. Nur mit einer solchen Aufteilung erreicht man absolute Präzision bei den Parabeln.
- Das zweite aufgesteckte Steuerhorn für die Steuerung des Anstellwinkels.
- Links das zusätzliche Steuerhorn für den Anstellwinkel. Am rechten Steuerhorn sind die zwei Befestigungsmöglichkeiten für die Schlaufen zum Steuern der Querneigung zu sehen.
Pilot Bertrand Rameau erzählt mir, was notwenig ist, um die Lizenz zum Parabelflugpiloten zu erwerben: „Hat man das A310 Typerating, bekommt man bei Novespace ein Training im Flugsimulator und einen realen Kunstflug mit einer kleinen Propellermaschine. Danach absolviert man vier reale Trainingsflüge mit dem A310. Das war’s eigentlich und man ist fertiger Parabelflugpilot.“ Rameau, der sonst A330 bei Corsair fliegt, arbeitet seit 2015 für Novespace und hat bereits um die 3500 Parabeln geflogen. „Das Besondere an einem solchen Flug ist, dass alles manuell geflogen wird. Das ist nicht allzu schwierig, aber man muss hoch konzentriert sein, um gute Parabeln fliegen zu können“, verrät er. Um die Lizenz zu erhalten, muss jeder Pilot zwei Trainingsessions pro Jahr absolvieren. Eine zu Beginn und eine Mitte des Jahres. Eine Session besteht aus je einem realen Parabelflug und einem realen Landetraining mit dem A310. Novespace beschäftigt insgesamt acht Parabelflugpiloten. Vier davon sind Testpiloten, drei normale Piloten und einer ist sogar Astronaut. Der französische ESA-Astronaut Thomas Pesquet fliegt nämlich in seiner Freizeit für Novespace. Zum Schluss möchte ich von Rameau noch wissen, ob beim Parabelflug sämtliche Warnungen im Cockpit deaktiviert sind: „Manche davon deaktivieren wir vorher, andere müssen wir bei jeder Parabel immer wieder manuell ausschalten.“ Bis auf kleinere technische Defekte, die bei jeder Fluggesellschaft auftreten können, kam es bei Novespace noch zu keinen größeren Zwischenfällen.
Am Abend gibt es in der nahegelegenen „Evering Université de Bordeaux“ noch eine Vorstellung aller an Bord befindlicher Experimente durch die jeweiligen Wissenschaftler. Auch der ehemalige ESA-Astronaut und Gründer von Novespace Jean-François Clervoy, der dreimal mit dem Space Shuttle im Weltall war, hält einen Vortrag. Danach geht es zurück zum Gelände von Novespace, wo bereits ein Foodtruck mit Pizza auf uns wartet. Das gemeinschaftliche Abendessen auf dem Hof der Firma hat Tradition. Die Wissenschaftler tauschen Informationen miteinander aus und auch ich komme mit Jean-François Clervoy ins Gespräch. Eine hochintelligente faszinierende Persönlichkeit. Ich bekomme noch wertvolle Tipps für meinen Parabelflug am morgigen Tag.
- Ex-Astronaut und Gründer von Novespace Jean-François Clervoy – ein sehr sympathischer Mann.
Am nächsten Morgen, dem 04. Juni 2024, ist es soweit. Um 07:30 Uhr treffe ich bei Novespace ein. Unter den Wissenschaftler spüre ich bereits eine gewisse Anspannung. Jeder möchte, dass sein Experiment gelingt und funktioniert. Um 08:15 Uhr kann jeder zum Arzt gehen und sich eine Dosis Scopolamin spritzen lassen. Das verhindert Übelkeit und Schwindel bei den Parabelflügen. Auch die Profis, die fast jedes Mal mitfliegen, lassen sich eine Dosis verabreichen. Das ist nicht schädlich und verhindert unschöne Überraschungen. Auch ich unterziehe mich dieser Prozedur. Kurze Zeit nach der Spritze in den Oberarm stelle ich fest, dass ich mich ganz leicht schwindelig fühle und mit meinen Augen auf die Ferne nicht mehr 100% scharf sehe. Das sei aber normal und würde bis zur ersten Parabel verschwinden, versichert man mir.
- DLR-Parabelflug-Programmleiterin Dr. Katrin Stang und der Autor vor dem Einsteigen zum Parabelflug.
Bis 09:00 Uhr muss jeder an Bord sein. Denn dann werden die Türen geschlossen. Alle Wissenschaftler sitzen im hinteren Bereich der Kabine auf den Sitzen. In der Regel sind fast alle Sitze belegt. Unser Pilot heute ist sogar ESA-Astronaut Thomas Pesquet.
- Während des Rollens zur Startbahn passieren wir ein Stück Luftfahrtgeschichte – eine alte Dassault Mercure verfällt neben dem Taxiway im Gras.
Kurz nach 09:30 Uhr heben wir ab und steigen in den blauen französischen Himmel. Heute geht es nach Westen zur Bucht von Biskaya. Als Alternative stünden das Mittelmeer und der Atlantik nordwestlich von Frankreich zur Verfügung. Die Strecke wird je nach Wetter ausgewählt, denn es ist wichtig, dass es unterwegs keine größeren Turbulenzen gibt. Diese könnten die Parabeln stören.
- Entlang der breiten Garonne geht es hinaus zur Bucht von Biskaya.
- Viel Zeit für Sightseeing bleibt nicht. Aber ein kurzer Blick auf die schöne Insel Île d’Oléron ist drin.
Sobald die Anschnallzeichen ausgeschaltet werden, springen die Wissenschaftler auf und eilen zu ihren Experimenten, um sie herzurichten.
- Auch der Arzt fliegt bei jedem Parabelflug mit.
Nach etwa 25 Minuten erreichen wir eine Flughöhe von 20.000ft und die Durchsage „First parabola in five minutes“ ertönt. Ich begebe mich mit Katrin in den Freiflugkäfig. Dort werde ich die ersten Parabeln erleben. Als nächstes wird angekündigt: „One minute!“ Dann „30…, 20…, 10…, 5, 4, 3, 2, 1, Pull up!“. Die Triebwerke heulen auf und die Piloten ziehen am Steuerhorn, sodass sich die Nase steil in den Himmel hebt. Mit 1,8G werde ich auf den Boden gedrückt. Obwohl ich bereits mehrere Kunstflüge mit bis zu 6G hinter mir habe, bin ich überrascht, dass die 1,8G im A310 doch ziemlich heftig sind. Das kommt sicherlich auch daher, dass man nicht angeschnallt ist und sich frei sitzend oder stehend in der Kabine befindet. Die Fluggeschwindigkeit im Moment des Hochziehens beträgt 830km/h (448kt). Nach 14 Sekunden werden 20° Anstellwinkel erreicht, nach 18 Sekunden 40°. Beide Ereignisse werden wieder laut angekündigt.
Nur drei Sekunden später werden 50° erreicht und das Kommando „Injection“ ertönt. Auf diesen Moment haben alle gewartet. Die Triebwerke werden bei einer Fluggeschwindigkeit von nur mehr 460km/h (250kt) flott in den Leerlauf gezogen. Der Sound dazu ist einzigartig, während die Triebwerke abrupt in den Leerlauf fahren. So etwas hört man beim regulären Fliegen nie. Nun folgen drei bis vier Sekunden Übergang von 1,8G in die Schwerelosigkeit. Durch den Leerlauf der Triebwerke ist es nun sehr leise in der Kabine geworden, das verbreitet ein bisschen Weltraumstimmung. Ganz offiziell ist es eigentlich gar keine richtige Schwerelosigkeit, sondern „nur“ Mikrogravitation. Denn durch kleine Turbulenzen in der Luft erfährt das Flugzeug immer noch geringe Restbeschleunigungen. Diese sind aber so gering, dass man sie kaum merkt und auch die Experimente trotzdem funktionieren.
Während der Übergangszeit wird man langsam immer leichter und leichter, bis man eben gar nichts mehr wiegt. Die erste Parabel verbringe ich fixiert an einem Band am Mattenboden. Das war eine Empfehlung von Katrin. Man solle sich langsam an die Schwerelosigkeit gewöhnen. Etwa 22 Sekunden dauert dieses für mich völlig neue Gefühl an. Die Flugzeugnase hat sich mittlerweile von 50° auf -20° und -30° gesenkt. Beide Werte werden wieder über Lautsprecher durchgegeben. Am Scheitelpunkt der Parabel lag die Fluggschwindigkeit nur noch bei 240km/h (130kt). Bei -30° sollten sich alle in der Luft schwebenden Personen festhalten und auf den Boden ziehen. Ansonsten würden sie drei Sekunden später bei -42° hart auf den Boden fallen. Denn bei diesem Winkel ertönt das Kommando „Pull out“ und der Pilot fängt den A310 aus dem Sturzflug ab. Man wird für die nächsten 28 Sekunden wieder mit 1,8G in den Kabinenboden gedrückt, bis das Kommando „Steady flight“ kommt und der A310 wieder normal geradeaus fliegt. Wir sind wieder auf unserer Ausgangsflughöhe von 20.000ft angekommen. Am höchsten Punkt der Parabel hatten wir ca. 8000ft mehr.
Das war schon mal sehr beeindruckend. Aber da ich noch am Boden festgeschnallt war, konnte ich die Parabel nicht so wirklich fühlen bzw. erleben. Die nächste Gelegenheit bekomme ich nach einer Minute und 45 Sekunden steady flight. Und diesmal nicht festgeschnallt. Nach dem Kommando „Injection“ werde ich wieder leichter, bis ich sitzend wenige Millimeter über dem Boden schwebe. Ein befreiendes Gefühl von Unbeschwertheit und Sorgenfreiheit kommt in mir auf. Eigentlich will ich mich nur ein bisschen mit den Fingern vom Kabinenboden abstoßen, um höher zu schweben. Doch mein Druck ist etwas zu stark und so schwebe ich in einer leichten Drehung kopfüber hoch zur Kabinendecke… naja, was soll’s, ich wollte ja eh ausprobieren, was mein Gehirn macht, wenn ich kopfüber an der Decke hänge bzw. anders ausgedrückt auf der Kabinendecke stehe. Suggeriert mein Gehirn den Eindruck, dass ich „verkehrt herum“ an der Decke hänge oder akzeptiert es, dass ich „richtig herum“ auf der Decke stehe und alle anderen Personen in der Kabine verkehrt herum sind? Zweiteres ist der Fall. Ich glaube, richtig herum zu sein und die Umgebung ist einfach anders. Diese Erfahrung wollte ich schon seit meiner Kindheit machen. Egal wie herum man schwebt, innerhalb des Körpers hat man immer den gleichen Druck und es ist nicht unangenehm. Anders ist das, wenn man unter normaler Schwerkraft z.B. kopfüber an einem Balken hängt. Nach kurzer Zeit läuft einem so viel Blut in den Kopf, dass es unangenehm wird. „30“ ertönt aus dem Lautsprecher. Höchste Zeit, mich umzudrehen. Sonst würde ich beim Abfangen mit dem Kopf auf den Boden knallen. Ich greife nach dem Netz und drehe mich um. Dann wiege ich auch schon wieder das 1,8 fache.
Die nächsten drei Parabeln wollen Katrin und ich für mein Wunschfoto verwenden: Ich schwebend neben meiner Spiegelreflexkamera. Doch das ist in der Schwerelosigkeit gar nicht so einfach. Denn berührt man die Kamera nur ein klein wenig zu fest, driftet sie gleich in eine andere Richtung ab. Oder man selbst driftet weg.
Hier merkt man dann auch leicht die Ungenauigkeit der Parabel. Man ist zwar schwerelos, aber hin und wieder driftet man ohne Zutun zur Seite, nach oben oder nach unten (daher Mikrogravitation). So etwas passiert auf der ISS im Weltraum natürlich nicht. Nach der dritten Parabel schaffen wir dann doch noch mein gewünschtes Foto. Mein Gesicht wirkt während der Schwerelosigkeit richtig aufgedunsen. Dieses Phänomen ist auch von den Astronauten im Weltall bekannt. Man nennt sie „puffy faces“. Das kommt daher, dass etwas zu viel Blut in den Kopf gepumpt wird. Während normaler Schwerkraft pumpt das Herz mit viel Kraft das Blut gegen die Schwerkraft durch den Körper und hoch in den Kopf. In der Schwerelosigkeit jedoch ist dafür viel weniger Druck nötig. Aber das Herz pumpt immer mit der gleichen Kraft weiter und so kommt es, dass etwas zu viel Blut im Kopf ankommt. Bei manchen Passagieren ist dieses Phänomen ausgeprägter, bei anderen weniger.
Solche Parabelflüge wären auch mit jedem anderen Linienflugzeug möglich. Es muss nichts umgebaut werden. Lediglich der Wartungsaufwand würde sich aufgrund der Hypergravitation, also den hohen G-Kräften, erhöhen. Der A310 soll noch bis zum Jahr 2035 für Novespace fliegen. Dann nämlich läuft der „Extended Service“ von Airbus aus.
Nun wird es Zeit, den Käfig den Wissenschaftlern zu überlassen, sodass diese in ihrer Pause die Schwerelosigkeit genießen können. Ich widme mich den Experimenten an Bord.
- LED-Lichter an der Decke sorgen für eine gleichmäßige Ausleuchtung des Forschungsbereichs.
- An den roten Gurten kann man sich während der Parabeln festhalten.
Besonders interessiert mich das Projekt CHARLIZE (Partikelbewegung bei geringer Hangneigung auf dem Mars unter solarer Einstrahlung) von Prof. Dr. Wurm von der Universität Duisburg-Essen. Mittels einer Zentrifuge wird während der Schwerelosigkeit durch Zentrifugalkraft Marsgravitation (etwa 1/3 der Schwerkraft der Erde) erzeugt und eine Probenkammer mit Sand, welcher dem auf dem Mars sehr ähnlich ist, in eine Schräglage gebracht. Eine Halogenlampe erzeugt Wärme und bestrahlt den Sand an einer Stelle. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, ab welcher Schräglage und welcher Wärmeeinstrahlung der Sand ins Rutschen kommt. Denn man hat herausgefunden, dass auf dem Mars an Kraterhängen während des warmen Marssommers immer wieder Hangrutschungen auftreten. Man erklärt dies mit dem sog. „thermischem Kriechen“, also einem Gasfluss vom kalten Marsuntergrund zur warmen Sandoberfläche. Dies gilt es nun zu beweisen.
- Die Zentrifuge des Experiments CHARLIZE von Prof. Dr. Wurm.
- Das Sicherheitspersonal an Bord trägt orange Overalls und ist für die Sicherheit und die Einhaltung der Regeln an Bord verantwortlich.
- Es ist Tradition unter den Wissenschaftlern, Plüsch-Maskottchen mitzubringen, die dann am Experiment oder an den Stangen der Kabine befestigt werden.
Dann möchte ich mir natürlich noch die Tragflächen während des Parabelflugmanövers anschauen. Denn in dem Teil der Kabine, wo sich die Experimente befinden, gibt es keine Fenster. Das ist auch gut so, denn man soll nicht durch wechselnde Horizontbilder vor dem Fenster abgelenkt werden. Ich schnalle mich an einem der hinteren Sitze locker fest. Es ist schon sehr beeindruckend, wie steil 50° und -42° am Horizont gemessen aussehen!
Jede Parabelflugkampagne, welche zwei Wochen dauert und insgesamt drei Flüge enthält, kostet dem DLR im Schnitt 1,7-2 Millionen Euro. Wer kein Wissenschaftler ist, aber trotzdem Schwerelosigkeit im A310 erleben möchte, kann einen solchen Flug privat buchen. Seit 2013 bietet Novespace diese privaten Spaßflüge an, auf welchen 15 Parabeln geflogen werden. 7500€ kostet dieses Erlebnis.
Nicht allen Passagieren geht es gut. Eine Testperson leidet unter Übelkeit und erbricht sich. Sie konnte kein Medikament gegen die Übelkeit einnehmen, da dies die Testergebnisse verfälscht hätte. Und eine Wissenschaftlerin muss sich auf die hinteren Sitze begeben. Ihre Dosis Scopolamin war zu wenig, nachdem sie vor einem Jahr auf dem Parabelflug eine zu hohe Dosis hatte und daraufhin während des Fluges eingeschlafen war.
Pause gibt es während der Parabeln auch. Nach den ersten sechs Parabeln (dabei gilt die allererste als Testparabel zum Eingewöhnen und Justieren der Experimente) sind es fünf Minuten. Nach jeden weiteren fünf Parabeln folgt eine weitere Pause von fünf Minuten. Nur in der Mitte, nach 15 Parabeln, sind es acht Minuten. Nach gut drei Stunden sind alle 31 geplanten Parabeln abgeflogen. Der A310 kehrt nach Bordeaux zurück.
- Anflug auf Bordeaux – die Landeklappen sind bereits gesetzt.
- Landung in Bordeaux.
Der heutige Flug war ein voller Erfolg und die Wissenschaftler sind zufrieden. Alles hat gut geklappt. Nach dem Flug bekommt jeder eine Datei mit den Daten der geflogenen Parabeln. Hier kann man sehen, wie genau jede einzelne geflogen wurde. Für manche Experimente sind diese kleinen Unterschiede sehr wichtig. Dann folgt das Debriefing. Jedes Team erzählt, wie sein Experiment verlaufen ist. Der Nachmittag steht zur Verfügung, um die verschiedenen Experimente für den nächsten Flug am Folgetag herzurichten. Ich verabschiede mich für den heutigen Tag und fahre zurück in meine Unterkunft.
Am Morgen des 05. Juni 2024 fahre ich noch einmal zum Gelände von Novespace. Ich darf den Wissenschaftlern am Vormittag noch einmal über die Schulter schauen. Leider kann ich beim heutigen Flug nicht mehr mitfliegen. Journalisten bekommen in der Regel die Möglichkeit, den ersten Flug einer Kampagne zu begleiten. Beim zweiten und dritten Flug sind dann mehr Wissenschaftler oder auch Mitarbeiter des DLR geplant. Die Sitzplätze an Bord sind auf insgesamt 40 begrenzt. Aber ich bin froh, dass ich auserwählt wurde, dabei sein zu dürfen. Ich konnte nicht nur die verschiedenen Experimente begleiten und beobachten, sondern auch meine persönlichen Fragen zum Thema Schwerelosigkeit klären. Nicht viele Menschen auf der Welt haben die Chance, richtige Schwerelosigkeit zu erleben. Dennoch bin ich ein bisschen neidisch auf die Wissenschaftler, die heute zum zweiten Mal mit dem A310 abheben, als ich dem Flieger beim Ablegen zuschaue. Aber zugegeben, wer wäre das nicht…?
- Der A310 startet zu seinem zweiten Parabelflug in dieser Kampagne.